Leserbrief zu: "Freiheit? Welche Freiheit? Die FDP hat ein Wahldebakel erlebt, der Liberalismus steckt in einer tiefen Krise."

Leserbrief zu: "Freiheit? Welche Freiheit? Die FDP hat ein Wahldebakel erlebt, der Liberalismus steckt in einer tiefen Krise." 
SZ vom 28./29.9.2013, Seite V2/8

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Die FDP hat ein Wahldebakel erlebt und verschwindet nach 46 Jahren aus dem Bundestag. Detlef Esslinger erklärt dazu in seinem Artikel "Freiheit? Welche Freiheit?", dass es die Weltanschauung des Liberalismus im Vergleich zum Konservatismus und Sozialismus in Deutschland immer schon schwer hatte. Wenn Liberale, wie er schreibt, "von Natur aus Individualisten" sind, leidet Deutschland diesbezüglich unter einer gefährlichen Mangelerscheinung. Was besonders befremdlich ist, da gerade wir in der Nazi- und DDR-Zeit doch die denkbar schlechtesten Erfahrungen mit Staats- und Obrigkeitshörigkeit gemacht haben. Wieso trauen die Deutschen trotz dieser Totalitarismus Erfahrungen dem Staat mehr Menschlichkeit zu, als dem Einzelnen? Warum wollen sie mehr Staat anstatt weniger?

Ein Einwanderungsland wie die USA, und wie Deutschland es werden sollte, lebt vom Liberalismus. Darin liegt die Verheißung: so viel Freiheit wie möglich, so wenige Vorschriften wie nötig. Der soziale Kitt ist nicht die sozialstaatliche Hängematte, sondern eine generelle Offenheit und Vertrauen gegenüber dem Fremden. Die soziale Verantwortung - Arbeit und Lohn, Wohnung und Nestwärme zu geben - wird nicht an den Staat delegiert, sondern obliegt jedem einzelnen. Bereits die regulierte Anarchie der indianischen Gesellschaften war im Wesen herrschaftsfeindlich. Die neuen Einwanderer kamen häufig als Flüchtlinge mit ihren negativen Erfahrungen von repressiven Regimen. "Der Staat ist am besten, der am wenigsten regiert", befand der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau (1817-1862), ein Vordenker des Anarchismus, der in seinem berühmten Essay über den zivilen Ungehorsam das Gesetz des Gewissens über das Gesetz des Staates stellte und damit unter anderem auch Mahatma Gandhi inspirierte.

Aus eigener Erfahrung, als Fotografin in New York am Ende von Ronald Reagans Präsidentschaft und danach, habe ich erlebt, wie wunderbar befreiend und produktiv das Leben ohne die lähmende Diktatur der deutschen Bürokratie und Formalismen sein kann. Der Wegfall der FDP und die generelle Liberalismus-Feindlichkeit der Deutschen lassen befürchten, dass wir uns von einem solchen Lebensgefühl immer weiter entfernen.