Von Galiläa nach Nabatiye, nach Beirut, Saida, Tyrus ...
Die Katastrophe der »Nakba« Jeder israelische Jude hat seit 55 Jahren einen Schatten - den palästinensisch-arabischen Flüchtling von 1948
Während der 14. Mai von den Israelis als Freudentag ihrer Staatsgründung im Jahre 1948 gefeiert wird, ist es für die Palästinenser der Tag der Nakba - der »Katastrophe«, der Beginn ihres Exils. 750.000 Palästinenser verloren damals in wenigen Tagen durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat. Bis heute verweigert Israel den inzwischen über fünf Millionen Flüchtlingen das Recht auf Rückkehr und widerspricht damit dem Völkerrecht sowie unzähligen UN-Resolutionen.
Bereits am 11.Dezember 1948 hatte die UN-Generalversammlung mit der inzwischen Jahr für Jahr bestätigten Resolution 194 entschieden: »... dass den Flüchtlingen, die in ihre Heimat zurückkehren und in Frieden mit ihren Nachbarn leben wollen, dieses zum frühest möglichen Zeitpunkt gestattet werden sollte, und dass jenen, die nicht zurückzukehren wünschen, Entschädigung für ihr Eigentum, für den Verlust oder die Beschädigung des Eigentums zu zahlen ist.« Stattdessen verabschiedete die Knesset 1950 mit dem Law of Return und dem Absentee Property Law zwei Gesetze, die allein eine »jüdische Rückkehr« aus aller Welt legitimierten, während sie die »abwesenden« Palästinenser enteigneten. Der israelische Autor Uri Davis schrieb darüber: »So hat jeder israelische Jude einen Schatten - den palästinensisch-arabischen Flüchtling von 1948. Israelisch jüdische Häuser werden auf den Ruinen ihrer Häuser gebaut, israelische Juden bebauen ihr Land.«
Der Sechs-Tage-Krieg 1967 führte zu einer weiteren Vertreibungswelle von knapp 300.000 Bewohnern aus der Westbank und aus Gaza, so dass heute die Palästinenser als eine der ältesten und größten Flüchtlingsgruppen der Welt gelten - aus »Refugees« rekrutiert sich die Mehrheit dieses Volkes. Um so erstaunlicher ist es, dass seine Geschichte verschwiegen wird, gerade so, als könnte sie sich »störend« auf einen illusorischen Friedensprozess auswirken. Dabei bleibt die Frage einer Rückkehr entscheidend, weil sie - von der Rechtslage abgesehen - den Kern dessen vorstellt, was palästinensische Identität ausmacht. Ähnlich, wie die Katastrophe der Shoa für jüdische Israelis identitätsstiftend wurde, ist es die der Nakba für die Palästinenser. Jedes Friedensabkommen, das sich dem zu entziehen versucht, wird scheitern.
Da sich Israel seit 55 Jahren weigert, Verantwortung für das Flüchtlingsproblem zu übernehmen, musste die Weltgemeinschaft einspringen. Seit 1950 sorgt das UN-Hilfswerk UNRWA (*) für die Erziehung, Gesundheit und soziale Fürsorge von 3,9 Millionen registrierten palästinensischen Flüchtlingen. Mit 400 Millionen Dollar Jahresbudget und einem Personal von 22.000 Mitarbeitern konzentriert sich die Hilfe vorzugsweise auf 1,2 Millionen Menschen in 59 UNRWA-Lagern, wovon acht in Gaza, neunzehn in der Westbank, zehn in Jordanien, zehn in Syrien und zwölf im Libanon liegen. Allein in Gaza leben 500.000 Palästinenser in derartigen Townships, die oft nur wenige Kilometer von ihren Heimatorten in Israel entfernt sind
Als Opfer jedoch wurden die palästinensischen Flüchtlinge von der übrigen Welt oft nur dann wahrgenommen, wenn es wie im September 1982 zu solch grauenhaften Ereignissen wie dem Massaker von Sabra und Chatila kam. Unter den Augen der seinerzeit in Beirut eingerückten Israelis töteten libanesische Falangisten in einem Blutrausch mehr als 2.000 Menschen, vor allem Frauen und Kinder. Der Pogrom blieb bis heute ungesühnt, nach einer Untersuchung durch eine Regierungskommission in Tel Aviv musste lediglich der damalige Verteidigungsminister Sharon sein Ressort räumen. Der französische Schriftstelle Jean Genet, der sich 1982 in Beirut aufhielt, schilderte den Massenmord in seinem Buch Vier Stunden in Chatila und notierte über die Psyche der Flüchtlinge: »Das Heimweh spielte hier eine fast magische Rolle. Die Palästinenser laufen Gefahr, auf ewig Gefangene des unglücklichen Zaubers dieser Lager zu bleiben.«
87 Prozent der jüdischen Bevölkerung leben heute auf etwa 15 Prozent des israelischen Staatsgebietes - das heißt, dank dieser Verteilung müsste eine Rückkehr der Palästinenser nicht zwangsläufig zu einer Vertreibung jüdischer Familien führen. Völkerrechtlich geregelte Verfahren der Rückgabe von Eigentum, wie sie im Kosovo oder in Bosnien oder auch für Flüchtlinge in Ruanda praktiziert wurden, könnten die Matrix sein, um Interessen und Rechte sowohl der palästinensischen Rückkehrer als auch der jüdischen Bewohner zu wahren - vorausgesetzt Israel erkennt das Menschenrecht der Palästinenser auf eine geregelte Heimkehr an. Noch dominiert der Wunsch, ein mehrheitlich jüdischer Staat zu sein, in dem Araber als »demographische Bedrohung« empfunden werden. Schließlich werden auch die in Israel verbliebenen Palästinenser wie Fremde im eigenen Land behandelt. Sie gelten vielfach als »interne Flüchtlinge«, denen als »anwesende Abwesende« innerhalb Israels ein Weg zurück in ihre eigenen Dörfer verwehrt ist.
Erschütternd sind die persönlichen Geschichten wiederholter Vertreibungen, denen die Palästinenser besonders im Libanon immer wieder ausgesetzt waren. Eine alte Frau zählt auf: Zum ersten Mal muss sie 1948 aus Galiläa in Palästina nach Nabatiye im Libanon fliehen. 1973 zerstören die Israelis diese provisorische Heimstatt - nächste Zuflucht ist das Al-Zaatar-Camp nahe Beirut, das 1976 von Falangisten geschleift wird. Sie rettet sich in das Ain El-Helweh-Lager in Saida und muss 1982 erneut fliehen, als die israelische Invasion beginnt. Nun führt ihr Weg nach Chatila in Beirut, die fünfte Flucht danach 1985 ins Rashidieh-Camp bei Tyrus. 1986 versuchen schiitische Amal-Milizen dieses Lager auszuhungern, also wieder zurück nach Saida, ins Ain El-Helweh-Camp, die sechste Vertreibung ... - Vielleicht bringt eine solche Displaced-Existenz ihre eigene Ästhetik hervor und ist der Grund dafür, dass die Bilder in palästinensischen Zimmern immer etwas zu hoch oder leicht »daneben« hängen.
In Ain El-Helweh, mit 70.000 Flüchtlingen auf zwei Quadratkilometern heute das größte Lager im Libanon, besuche ich Baha, die bei einer der vielen Nichtregierungsorganisationen (NGO) arbeitet. Wir holen Machmud in Tyrus ab und fahren zur südlichen Grenze zwischen Libanon und Israel. Baha zeigt auf ihr Dorf in Galiläa, jenseits des Stacheldrahtzauns, so nah und unerreichbar. Nur zwei Stunden fährt man von hier bis Jerusalem, zwei Stunden und 55 Jahre, eine Ewigkeit.
Ein israelischer Armeezeppelin fliegt über die Grenze hinweg, die seltsam unwirklich und unberührbar wirkt. Wir fahren die »Straße der Märtyrer« an der Demarkationslinie entlang, an deren Rändern riesige Porträts an die im Kampf gegen die israelische Besatzung Gefallenen erinnern. Am Fatima-Gate, wo sich Hisbollah-Poster und israelische Plakatwände wie Papiertiger gegenüber stehen, zeigt Machmud auf die blitzend weiße jüdische Siedlung, die dort errichtet wurde, wo über Jahrhunderte das arabische Dorf seiner Familie stand: »Du darfst als Deutsche meine Heimat besuchen, wir dürfen nicht einmal als Besucher diesen Boden betreten.«
Störche fliegen auf, wir pflücken roten Mohn und stärken uns mit Kernen, die angeblich Vögel »glücklich« machen. Wir tagträumen von einem Schiff, das die Palästinenser unter UN-Eskorte zurück nach Haifa oder an einen anderen Ort bringt. Tatsächlich gab es immer wieder Ideen für eine friedliche Invasion Israels. So wurde schon seit den sechziger Jahren in Jordanien über einen palästinensischen Peaceful March Home diskutiert, der tatsächlich am 14. Mai 1990 mit etwa 40.000 Teilnehmern begann, von jordanischer Prominenz unterstützt wurde und fröhlich in Richtung Allenby-Brücke unterwegs war, um dort von der jordanischen Polizei mit Tränengas gestoppt zu werden. Auch der Versuch, in Anlehnung an das berühmte »Exodus«-Schiff jüdischer Flüchtlinge ein entsprechendes »Ship of Return« zu den Häfen Palästinas zu bringen, missglückte. Als im Februar 1988 die von der PLO gecharterte Fähre Sol Phryne von Zypern aus 130 Exilanten unter dem Geleit vieler Journalisten nach Haifa bringen sollte, wurde das Schiff vor dem Auslaufen von einer Mine gesprengt.
In einer Straßenbuchhandlung von Amman erschrecke ich über die Biografie Hitlers, die im Regal der »Freiheitskämpfer« zwischen Mandela und Che Guevara eingeräumt ist. So, wie es für uns nicht vorstellbar ist, dass Juden in Israel zu Tätern wurden, ist es für viele Araber nicht mehr vorstellbar, dass Juden in Europa Opfer waren. Dabei schrieben schon in den dreißiger Jahren arabische Zeitungen, das Problem des Antisemitismus müsse in Europa und von Europa selbst gelöst werden. Die Palästinenser, ein kleines Volk, könnten unmöglich diese Last tragen. Europa war Schauplatz der Shoa, aber die »Wiedergutmachung« fand vorzugsweise im Nahen Osten statt, zu Lasten der Palästinenser. Der arabische Knesset-Abgeordnete Azmi Bishara sprach einmal von den »indirekten Opfern« des Holocaust. Ob man in Berlin daran denkt, einmal ein Nakba-Mahnmal zu bauen?