Brennende Seelen konspirativer Glühwürmchen
Afrofuturistischer Cyberpunk im Film »Neptune Frost«
Von Sabine Matthes
Foto: courtesy of Neptune Frost
Das blaue Licht des Cyberpunks im Dienst der Revolution
In einer Coltanmine in Burundi hält der Minenarbeiter Tekno einen
Gesteinsbrocken klagend gen Himmel und wird prompt von einem
Aufseher erschlagen. Die Arbeiter trommeln Trauer und Aufruhr, der
Bruder des Ermordeten flieht. Sein Name ist Matalusa. »Mata« wie
»martyr« und »lusa« wie »loser« – oder wie »Martin Luther King«. Der
Name ist Mission. Und so führen ominöse kosmische Kräe ihn
traumwandlerisch sicher durch Hügel und Wälder zu einem Rebellencamp ehemaliger
Minenarbeiter und Außenseiter – dem Hackerdorf Digitaria.
Zur gleichen Zeit stirbt die Mutter des zweiten Hauptprotagonisten Neptune. Ein Priester klop nach dem Begräbnis an dessen Tür, setzt sich zu ihm und hat unlautere Absichten. Neptune schlägt den Priester nieder und flieht. Er folgt dem Flug einer weißen blutverschmierten Taube. Auf einer Fähre über dem See packt er seine High Heels aus dem Rucksack, entpuppt sich in flammend rotem Kleid als Frau und landet als Intersex-Hackerin Neptune ebenfalls in Digitaria.
Neptune und Matalusa verlieben sich dort. Es funkt. Nebenbei entfachen sie zusammen mit einem exzentrischen Haufen anarchischer »Hacktivisten« in glamourösen Cyber-Punk-Outfits die Revolution. Ihre Kommandozentrale haben sie auf einem Elektromüllfriedhof in den Hügeln Burundis eingerichtet. Für ihre Utopie einer grenzenlos freien, gleichberechtigten, sinnlichen Welt wollen sie das Bewusstsein der Menschheit hacken.
Mit Fühlern, Antennen und Drähten gleichen sie surrealen Rieseninsekten und funken, trommeln, morsen, blitzen, singen, wispern, dichten geheimnisvoll poetische Codes in den Äther des Weltalls und des World Wide Web. Sie sind konspirative Glühwürmchen mit brennenden Seelen, neonschrillem Make-up und leuchtenden Wattebäuschen im Haar. Fluoreszierende Speicherräder kreisen auf ihren Köpfen. Planetensysteme wie Kronen. Ihre kryptischen Botschaen aus einer fernen Welt erinnern an Stimmen aus dem Totenreich, die ja bereits in Jean Cocteaus »Orphée« (1950) aus dem Autoradio gekommen sind.
»Neptune Frost« ist der Debütfilm von Saul Williams und seiner Frau Anisia Uzeyman. Er hatte 2021 Premiere in Cannes und sorgte danach auf zahlreichen Festivals für Furore. Saul Williams stammt aus New York, hat Wurzeln in Haiti und ist bekannt als Musiker, Rapper, Spoken-Word-
Das blaue Licht des Cyberpunks im Dienst der Revolution
»Neptune Frost«, Regie: Saul Williams, Anisia Uzeyman, Ruanda/USA/Frank- reich/Kanada 2021, 105 Min., bereits angelaufen, Schauspieler und Aktivist. Konzept und Musik für den Film entwickelte er aus seinem fünen Soloalbum »Martyr Loser King« (2016). Co-Regie führte Anisia Uzeyman. Sie ist Schauspielerin, Dramatikerin und Kamerafrau, stammt aus Ruanda und wuchs in Frankreich auf.
Williams erfuhr von Blutmineralien wie dem Coltan im Kongo und von den dortigen Elektroschrottdeponien, die so groß wie ganze Dörfer sind. Er fragte sich, ob dieselben Flugzeuge, die zuerst die Mineralien ausfliegen,
später die ausgedienten Computerleichname als Elektroschrott wieder zurückfliegen. So entstand die Idee zum Ort Digitaria.
»Neptune Frost« gehört in die Reihe afrofuturistischer Filme. Diese wird neuerdings auch von afrikanischen lowtech Science-Fiction-Filmen wie dem rätselhaen angolanischen »Air Conditioner« (2020) bereichert , wo durch eine seltsame Heimsuchung in Angolas Hauptstadt Klimaanlagen wie zum Selbstmord von Gebäuden stürzen. In dem Klassiker »Space Is the Place« (1974) war für Sun Ra die Errettung und Selbstermächtigung der Schwarzen nur in einem außerirdischen Garten Eden denkbar. In den »Black-Panther«-Filmen von Marvel (2018 und 2022) heißt das magische Utopia Wakanda. Dessen Macht und technologische Überlegenheit beruht auf dem Schlüsselelement Vibranium, das für Coltan und stellvertretend den gesamten Rohstoreichtum der Region stehen könnte. In »Neptune Frost« heißt die Zufluchtsstätte Digitaria, das Krazentrum der Selbstbefreiung und des Umsturzes. Von hier aus nehmen die Hacktivisten Rache und zeigen dem weißen männlichen Silicon Valley den Stinkefinger.
Gedreht wurde der Film in 27 Tagen in Ruanda bis zum Corona Shutdown am 8. März 2020. Die Handlung spielt aber in Burundi. Cedric Mizero, der 25jährige geniale ruandische Modedesigner, kreierte die futuristischen Kostüme und das Set-Design und brachte auch seine eigene Künstlergruppe mit. Der burundische Rapper und Aktivist Kaya Free spielt Matalusa. Wie viele Studenten und Künstler, die im Film mitwirken, war er 2015 als Flüchtling wegen der politischen Unruhen in Burundi nach Ruanda gekommen.
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