Ein Prophet im Exil: Marc Ellis
Die Mauer in den besetzten Gebieten hat augenscheinlich die Terrorgefahr in Israel vermindert, die Folgen für die Palästinenser sind jedoch katastrophal. Auch die jüdische Identität verändert sich durch die militärische und zivile Bekämpfung der Palästinenser, warnt der amerikanisch-jüdische Befreiungstheologe Marc Ellis. Er fordert eine doppelte Solidarität mit Juden und Palästinensern.
Nehmt alle teil am jüdischen Bürgerkrieg, stellt euch an die Seite der Juden, die sich ihrem Gewissen verpflichtet fühlen, wenn ihr aber Herrschaft und Verbrechen unterstützt, steht ihr nicht an unserer Seite.“ Eindringlich zeigt Marc Ellis auf zwei große Landkarten.
Die eine zeigt hunderte verlassene palästinensische Dörfer im Jahr 1948, die andere den Verlauf der Trennungsmauer zwischen Israel und der Westbank im Jahr 2003. Damit erklärt Ellis, dass für seine jüdische Identität nicht nur der Holocaust bestimmend ist, sondern auch die Vertreibung der Palästinenser infolge der israelischen Staatsgründung (bei der 75 Prozent der Bevölkerung ihre Heimat verloren) und die israelische „Apartheidsmauer“, wie er sie nennt.
Ellis ist damit ein Außenseiter. Auch wenn er argumentiert, dass jüdische Geschichte und Identität in entscheidender Weise durch den israelischen Nationalismus verändert und neu interpretiert wird. Damit sei ein konstantinisches Judentum entstanden, das sich dem Dienst an Staat und Macht verschrieben habe. Durch die Schaffung eines jüdischen Staates auf Kosten palästinensischer Präsenz sei der Bund Gottes mit Israel zerstört worden und könne nur durch eine neue Ethik und praktizierte Gerechtigkeit erneuert werden, welche die beiden Völker versöhnt. Wo die Verweigerung der Anbetung von Staat und Macht zu den ältesten Traditionen innerhalb des Judentums gehört, wird es für Ellis zur Pflicht, die ethische Dimension des Judentums zu retten.
Marc Ellis verkörpert eine jüdische Stimme des Gewissens, wie sie seit den großen Denkern Martin Buber, Judah Magnes und Hannah Arendt selten geworden ist. Die christliche Befreiungstheologie hat Ellis übersetzt in eine jüdische Befreiungstheologie, welche vor allem die universale ethische Dimension des Judentums entfaltet: generell in Solidarität mit allen Leidenden der Welt, speziell im Bemühen um eine „Befreiung“ der Palästinenser.
Die „Grenzüberschreitung“ zu den Palästinensern ist für ihn ähnlich wie zu den Armen, nämlich zu „erkennen, dass der wesentliche Unterschied nicht Macht oder Armut ist, sondern dass sie in ein System verwickelt sind, das ihnen ihre Menschlichkeit verweigert. Hier frage ich nicht nur nach meiner rein menschlichen Verantwortung, was an sich eine große Frage ist, sondern auch, was meine Verantwortung als Jude ist“.
Religiös geprägt wurde Ellis an der Florida State University durch die Studien Martin Bubers und Richard Rubenstein, den Holocaust-Theologen und Autor von „Nach Auschwitz“. Dessen Fragen nach der Zerbrochenheit des Bundes und der Zerbrochenheit menschlicher Geschichte haben ihn tief bewegt. Daran anknüpfend stellt Ellis die Frage: „Wenn die Shoa ein tragisches Ende des jüdischen Exils und jüdischer Ohnmacht bedeutet, so bedeutet die Errichtung des Staates Israel den Beginn des palästinensischen Exils und palästinensischer Ohnmacht.“ Die Tragödien der Shoa und des palästinensischen Exils seien verschieden nach Ort und Ausmaß. Was sie aber verbinde, sei ein Zyklus von Vertreibung. „Können Juden vom Trauma der Shoa geheilt werden, indem sie ein anderes Volk vertreiben?“ Die Befreiung des jüdischen Volkes ist für ihn verbunden mit der Befreiung des palästinensischen Volkes. Die Palästinenser fühlen sich durch den Zaun schikaniert und von der Welt abgeschnitten.
Anhand der Landkarten erläutert Ellis die Bedeutung der Trennungsmauer, die tief in palästinensisches Gebiet eindringt und die Westbank in Enklaven zerschneidet. In den Oslo-Verhandlungen hatten sich die Palästinenser mit 22 Prozent ihres ursprünglichen Landes zufrieden gegeben. Doch durch den fortschreitenden Siedlungsbau hat Israel selbst inzwischen die vereinbarte Zwei-Staaten-Lösung unmöglich gemacht.
Ellis erklärt, dass die vorgelegten Teilungspläne der Regierungen Rabin, Netanjahu, Barak und Scharon im Wesentlichen darin übereinstimmen, dass der „palästinensische Staat“ ein von Israel umgebenes, kontrolliertes und zerstückeltes Gebiet sein werde. „Die Zwei-Staaten-Lösung ist eine Lüge. Wir alle wissen, es wird keinen palästinensischen Staat geben.“
Ellis ist nicht gekommen, um Lösungen zu geben, sagt er, sondern um die Wahrheit zu sagen und das mit beklemmender Deutlichkeit. Es gibt keinen palästinensischen Staat, sondern ein palästinensisches Ghetto, eingemauert in einem israelischen Staat, der sich vom Mittelmeer zum Jordan erstreckt, sagt der Professor.
Was die Palästinenser betrifft, betrifft auch die Juden, mahnt er. „Was hier passiert, ist falsch, es ist ein Verbrechen, es würde auch so genannt werden, wenn es jemand anderem angetan würde.“ Ellis stellt sich die Frage, welche Art jüdischer Identität jetzt im Schatten der „Mauer des Unrechts“ erstarken werde, die bestückt ist mit Beobachtungstürmen und Stacheldraht: „Sie sollte Juden an andere Zeiten und Orte jüdischer Geschichte erinnern.“ Er empfindet ein „Gefühl des Verrats“ wegen der Teilnahme seiner eigenen Gemeinschaft „an einer Politik, wie sie, zu einer anderen Zeit und unter anderen Umständen, gegen uns angewandt wurde. Die Ghettoisierung eines ganzen Volkes und kollektive Bestrafung für den Widerstand einiger sind für einen Juden, der sich seinem Gewissen verpflichtet fühlt, schwer zu akzeptieren.“
An dem Unrecht nehmen Palästinenser Schaden und Juden. Wollen Juden aus dem Verlust der „Unschuld“ wieder „erlöst“ werden, so könne dies, nach Ellis’ Vorstellung, nur gemeinsam mit den „Opfern“, den Palästinensern, geschehen.
„Die Trennungsmauer versiegelt die Türen des Ghettos“, warnt Ellis, „und wieder schweigen Christen.“ Für das neue Schweigen macht Ellis den ökumenischen Dialog zwischen Juden und Christen verantwortlich, der zu einem „ökumenischen Deal“ geworden sei, um die Wunden des Holocaust zu heilen.
Der ökumenische Deal, in dem „der Staat Israel als Sühne-Instrument fungiert“, wirke wie eine religiöse und politische „Zensurbehörde“ und mache eine ausgewogene Analyse der israelisch-palästinensischen Realität anscheinend unmöglich, sagt Ellis. Er geht so weit, besonders die linken, progressiven Juden und friedensbewegten Christen für Israels ungehinderte Expansionspolitik verantwortlich zu machen, weil sie durch ihre scheinbar großzügigen Slogans der „Teilung“ ein rassistisches Konzept unterstützen, das die Palästinenser als demografische Bedrohung in ihrem eigenen Land ansieht.
Gerade die liberalen religiösen und politischen Gruppen müssen seiner Meinung nach hinterfragt werden, da sie ihre Kritik an Israel auf ein Minimum beschränkten und damit zur Ausdehnung Israels und Verkleinerung Palästinas beigetragen hätten. Im Gegensatz zur progressiv-jüdischen Mehrheit, die in der israelischen Besiedlung und Besatzung von Westbank und Gazastreifen nur eine vorübergehende „Anomalie“ sehe, erkennt Ellis darin die Fortsetzung einer unheimlichen Logik seit der Vertreibung der Palästinenser von 1948: „All dies hat Methode und geschieht nach einem systematischen bürokratischen und von der israelischen Seite aus vollkommen legalen Verfahren von Enteignung und Zwangsvertreibung.“ Aus Gewissensgründen hat sich Ellis mit seinen radikalen Wahrheiten „ins Exil“ begeben und damit das Risiko auf sich genommen, die Komplizenschaft am „Verbrechen des Schweigens“ zu lösen.
Jetzt, da sich der überholte Slogan der Teilung („Zwei Staaten für zwei Völker“) als naive Illusion erwiesen habe, ist für Ellis ein Perspektivwechsel längst überfällig. Wird es innerhalb des expandierten Staates Israel zur Gründung einer Bürgerrechtsbewegung kommen? Wird die Weltgemeinschaft diese mit derselben Überzeugung unterstützen wie sie die Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika unterstützte? Wird der Kampf für die Gleichberechtigung der Palästinenser mit jüdischer Unterstützung geführt werden? – Für Marc Ellis sind dies entscheidende Fragen.
Nun könne die Alternative des humanistischen Zionismus von Martin Buber wieder aktuell werden. Buber, Judah Magnes und Hannah Arendt erachteten eine jüdische Heimstätte in Palästina als wichtig für die Zukunft der Juden. Dennoch waren sie für einen gemeinsamen und gegen die Schaffung eines rein jüdischen Staates, der die Vertreibung der arabischen Bevölkerung Palästinas erzwingen würde. In den Augen Magnes widersprach dies dem zionistischen Bestreben, das jüdische Leben in einem Geist brüderlicher Solidarität zu rekonstruieren.
Wie Ellis hatte sich auch der amerikanische Rabbiner Magnes gegen die fortschreitende Nationalisierung des Judentums gewandt. Um eine Teilung Palästinas zu verhindern, hatte er sich für eine amerikanische Militärpräsenz in Jerusalem ausgesprochen. Die moralische Forderung, die Magnes 1929 an jüdisches Leben in Palästina stellte, hieß: „Es muss unsere Aufgabe sein, erst uns und dann andere zu überzeugen, dass Juden und Araber, Moslems, Christen und Juden dort die gleichen Rechte haben, gleiche Privilegien und gleiche Verpflichtungen.“
Für Ellis ist dies heute noch aktuell und der Schlüssel für ein friedliches Zusammenleben von Juden und Arabern.
Marc Ellis, 1952 in Florida geborener Jude, ist Professor für amerikanische und jüdische Studien an der Baylor Universität in Texas. Als Autor widmet er sich Fragen nach der Zukunft jüdischen Lebens und Denkens, nach Perspektiven für den israelisch-palästinensischen Konflikt und den jüdisch-christlichen Dialog. Auf Deutsch ist sein Buch „Zur Befreiung berufen. Eine jüdische Stimme“ im Aphorisma Kulturverein (Berlin) erschienen.
© Copyright Evangelischer Kirchenbote 2003