Straßenfotografie aus Mali 26.06.2025

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Straßenfotografie aus Mali

"Alles darf nebeneinander existieren"

Das Museum Fünf Kontinente in München zeigt gerade zeitgenössische Straßenfotografie aus Mali. Hier erzählt der Mitkurator Jonathan Fischer von den Busmalern in Bamako, gelebter Toleranz und der Kraft von Kunst und Boxen

Was die Dandys für Kinshasa sind, sind die Sotramas für Bamako: schrille, grellbunte, übermütige Selbstinszenierungen. Wild entschlossen trotzen sie Chaos, Armut und Staub und ziehen eine Spur des Lächelns durch die Straßen der Hauptstadt von Mali. Die rollenden Stars von Bamako sind private Mercedes-Kleinbusse für den öffentlichen Nahverkehr. Ihre Besitzer lassen sie von Busmalern zu exzentrischen Gesamtkunstwerken gestalten, voller Bilder und Botschaften, die Geschmack und Charakter der Chauffeure spiegeln - und den Zeitgeist der Stadt. 

Das malische Foto-Kollektiv Yamarou hat dieses Kulturphänomen über ein Jahr lang für die Ausstellung "Merci Maman. Straßenfotografie in Mali" porträtiert. Im Münchner Museum Fünf Kontinente werden etwa 60 Arbeiten von fünf Mitgliedern der Gruppe präsentiert - atmosphärisch wie ein Marktplatz inszeniert und vom Rhythmus malischer Songs in Schwingung versetzt. 

Zur Eröffnung sprachen die Fotografen Monique Dena und Seydou Camara. Letzterer hat Yamarou 2015 gegründet, als künstlerischer Berater der Foto-Biennale in Bamako gearbeitet und unter anderem auf der Documenta 14 und 15 ausgestellt. Bamakos berühmter Busmaler Drissa Konaté verewigte auf einem Wohnmobil vor dem Museum die bayerisch-malische Freundschaft mit den Porträts der beiden kunstsinnigen Könige Ludwig und Mansa Musa. 

Inspiriert und mitkuratiert (zusammen mit Stefan Eisenhofer) wurde die Ausstellung von dem Kulturjournalisten, Künstler und DJ Jonathan Fischer. Geboren in München, aufgewachsen in Tansania, verfolgt er seine Passion für Schwarze Musik, Fotografie und Boxen von New Orleans bis Kapstadt. Er ist mit einer Malierin verheiratet und lebt seit fünf Jahren in München und Bamako.                


Herr Fischer, sie kamen 2012 das erste Mal nach Mali. Ein Bus mit einem riesigen aufgemalten Sylvester Stallone fuhr an Ihnen vorbei, fasziniert verfolgten Sie ihn mit dem Taxi - die Initialzündung für die jetzige Ausstellung "Merci Maman"? 

Nachdem meine Aufmerksamkeit einmal auf die fantastisch bemalten Sotramas gelenkt war, entdeckte ich immer neue Motive. Damals zierten noch François Hollande oder der gerade an die Macht geputschte Oberst Sanogo manche Busse. Neben Fußballern, Musikern, Cheikhs und Sängerinnen. Es kam mir vor, als würde auf den Straßen Bamakos eine rollende Zeitung an mir vorbeiziehen und mir tausende Geschichten über die Vorlieben und Träume der Malier erzählen. 

Bamako ist für Sie nicht nur ein Lebensgefühl, sondern "auch eine Bühne für Alltagskunst" - und die Sotramas, die bemalten Mercedes-Kleinbusse, das perfekte Symbol dafür. Wie kam es zu dieser speziellen Kulturgeschichte? 

Laut Drissa Konaté, dem wohl bekanntesten Busmaler Bamakos, hat alles in den 90er-Jahren angefangen. Bis dahin waren die Sotrama-Mercedesbusse in der Regel einfarbig grün gestrichen. Nachdem er einen Friseursalon mit einem Porträt der New Yorker Rap-Ikone Notorious B.I.G. bemalt hatte, bekam er den Auftrag, die Mauern eines Freizeitparks zu gestalten. Die Bus-Chauffeure, die Konatès Murals passierten, wurden neugierig. Bald bekam er täglich bis zu drei Anrufe: Ob er nicht auch ihren Bus bemalen könne? Seitdem hat Drissa Konaté hunderte von Sotramas etwa mit Adlern, dem Symbol der malischen Nationalmannschaft, oder großen Porträts von Bob Marley, Oumou Sangaré und Che Guevara bemalt. Allerdings ist diese Kultur der künstlerischen Busse gefährdet. In letzter Zeit lassen sich immer mehr Sotrama-Chauffeure bezahlen, um Werbung auf ihren Karosserien zu platzieren. Anzeigen für Erfrischungsgetränke, für Sprachschulen oder Waschmittel sind dort immer häufiger zu sehen.

Auf den Sotramas sind scheinbar widersprüchliche Motive friedlich vereint - das Schwert des Islam neben der US-amerikanischen Flagge, Gaddafi, Bob Marley, Rolling-Stones-Zunge und Putin. Drissa Konaté erklärt dazu: "Wir Malier leben eine Philosophie der Toleranz" - und die Bilder folgten einer Logik des eigenen Herzens. Das weiße Pferd gilt als Glücks- und Wohlstandssymbol; Leopard, Löwe und Adler als starke Tiere. Gaddafi als antikolonialer Freiheitsheld, der viel in die Infrastruktur Malis investiert hat und das Regierungsviertel erbauen ließ. Welche Motive sind Klassiker, welche ändern sich? 

Zu den Klassikern gehören auf jeden Fall die großen Cheikhs, also die muslimischen Religionsführer Malis. Etwa der Cherif von Niono oder Cherif Ousmane Madani Haidara, die beide einen toleranten, am Sufismus orientierten Islam predigen. Andere Sotrama-Bemalungen reagieren auf das tagesaktuelle Geschehen: Seit den Militärputschen 2020 und 2021 lässt sich eine Welle des Patriotismus beobachten. Das Porträt des Putschistenführers und Interimspräsidenten Assimi Goita prangt auf vielen Bussen, ebenso wie das Emblem der malischen Armee oder das Konterfei von Putin, der nach dem erzwungenen Abzug der Franzosen als neuer Partner eingesprungen ist. 

Der ivorische Popstar DJ Arafat ist ein beliebtes Motiv. Gibt es, wie in Südafrika, Solidarität mit Gaza und Palästina-Flaggen? Warum ist neben der US-amerikanischen Flagge die deutsche beliebt, ebenso deutsche Logos und der Adler?  

Gaza, der aktuelle Krieg zwischen Israel und Iran ist für die Malier weit weg. Es gibt so viele Probleme in der unmittelbaren Umgebung zu lösen: ständige Stromausfälle, gestiegene Lebensmittelpreise, die allgegenwärtige Korruption und nicht zuletzt der Bürgerkrieg. Seit 2012 haben Separatisten, aber auch militante Islamisten einen Großteil des malischen Territoriums besetzt - der Konflikt, der auch durch Feindseligkeiten zwischen ethnischen Gruppen befeuert wird, kostet täglich viele hundert Leben. Was die Fahnen betrifft: Sie drücken Sympathien und Bewunderung aus - und das kann für uns auch widersprüchlich anmuten, etwa wenn ein und derselbe Bus vorne einen Russlandwimpel und hinten Stars and Stripes oder auch den Union Jack trägt. 

Und für die Einheimischen?

Nach malischer Alltagsphilosophie darf alles nebeneinander existieren. Vor meinem Haus fährt täglich ein Bus vorbei, der Che Guevara mit dem Abbild eines islamischen Cheikhs kombiniert, ein anderer zeigt die Comicfiguren Tom und Jerry neben einer deutschen Flagge. Die Deutschlandfarben sind auf jeden Fall sehr beliebt: Deutschland steht hier für die Marke Mercedes, für großen Fußball, für Qualitäts-Damast und für freundschaftliche Beziehungen - immerhin war Deutschland das erste Land, das Mali nach seiner Unabhängigkeit 1960 anerkannte.

Was bedeutet "Merci Maman" und Sinnsprüche wie "Limaniya"?

"Merci Maman", oder auch "Merci grand frère", "Merci tonton" gehören zu den häufigsten Sotrama-Aufschriften. Sie bedanken sich bei denjenigen, die geholfen haben den Bus zu finanzieren, aber auch jene, die einen generell im Leben unterstützt haben. Auch "Limaniya" lese ich sehr oft: Das Wort bedeutet auf Bamana so viel wie "Gleichmut", "Gelassenheit" - was gerade angesichts der widrigen Umstände des Alltags in Bamako eine sehr malische Charaktereigenschaft bezeichnet. Niemand hier regt sich auf, schimpft oder starrt säuerlich vor sich hin, wenn es einen Stau, eine Panne oder einen Zwischenfall gibt. Vielmehr wird alles als Anlass für Witzeleien und gut gelaunte verbale Schlagabtausche hergenommen... 

Ein vergnügtes Gemeinschaftsgefühl unter Wildfremden herrscht auch in den Sotramas, als wären es rollende Cafeterias - kein eisiges Schweigen versteinerter Minen wie in unserer U-Bahn. Und wie unterscheidet sich das Kunstverständnis in Mali von unserem? Gibt es statt elitärer Kunst in Galerien und Museen eher Street-Art, Performance, Alltagskunst? 

Die meisten Malier haben weder Zugang zu Museen (es gibt einige in Bamako, aber ein Museumsbesuch gehört nicht zur traditionellen Kultur) noch Galerien oder Kunstausstellungen. Dafür ist Kunst im Alltag und auf den Straßen allgegenwärtig - ohne dass die Menschen das so nennen würden. Etwa in Form der Murals und Sotrama-Bemalungen, den raffinierten Kreationen der heimischen Schneider, den Marionetten-Theatern und überlebensgroßen Puppen, die anlässlich besonderer Zeremonien durch die Straßen paradieren. Besonders schrill wirken die Koredugaw - das sind Geheimbünde der Älteren, die sich mit Taucherbrillen, Kasperlmützen, Trommeln und Holzpferden wie heilige Narren aufführen. Sie werden oft als Streitschlichter und Friedensstifter gerufen. Durch das bewusste Übertreten aller Normen schaffen sie Platz, um Konflikte auf humorvolle Art zu lösen. 

Wie sieht die Situation malischer Kunstschaffender aus? Der Busmaler Drissa Konaté war schon als Kind vom Malen besessen, musste seine Leidenschaft aber mit viel rebellischer Kraft gegen sein traditionelles islamisches Elternhaus durchboxen. Wie verlief sein künstlerischer Werdegang?   

Drissa Konaté hatte es nicht leicht. Als Kind träumte er sehr lebhaft und versuchte dann tagsüber, das Gesehene mit Kohlestückchen und später mit Stiften festzuhalten. Später ließen sich seine Mitschüler auf der Madrassa oder Koranschule heimlich von ihm porträtieren - denn offiziell galt das Zeichnen und Malen von menschlichen Gesichtern als religiöses Tabu. Sie sagten "nur Gott dürfe das Leben erschaffen, und ich solle mich nicht als Künstler an seine Stelle setzen". So erzählt es Konaté. Er wurde dann auch aus seiner streng religiösen Familie wegen seiner Malleidenschaft verstoßen. Was ihn nicht hinderte, Tag und Nacht an neuen künstlerischen Werken zu arbeiten. Als er schon einen Namen als Maler hatte, fiel er politisch in Ungnade: Er hatte eine Karikatur des damaligen Präsidenten ATT (Amadou Toumani Touré) als Fußballspieler angefertigt, in der dieser seinem Gegenspieler IBK (Ibrahim Boubacar Keïta) die rote Karte zeigt. Der Präsidentensohn war von dem Bild erzürnt. Und Konaté musste sich ein halbes Jahr lang vor dem Zugriff der Polizei verstecken - eine Zeit, in der es niemand wagte, ihm Aufträge für Murals oder Sotramas zu geben. Die Erlösung kam mit einem Anruf der Präsidenten-Cousine: Er solle doch bitte im Auftrag des Umweltministeriums überall in der Stadt große Wandgemälde für Abfallvermeidung und Recycling anfertigen.

Auch Seydou Camara, der aus einer Familie von Juristen kommt, musste erst seine Eltern austricksen, ehe er sich als Fotograf verwirklichen konnte. Das 2015 von ihm gegründete Foto-Kollektiv Yamarou sieht Fotografie als Medium für gesellschaftlichen Wandel. Ähnlich wie der Kamoinge Workshop - ein Kollektiv Schwarzer Fotografen, das sich 1963 in New York gegründet hatte, sich als Teil einer globalen panafrikanischen Bewegung sah und Fotografie als emanzipatorisches Mittel nutzte, um Selbstbewusstsein und ein positives Schwarzes Image zu fördern. Wer sind die Yamaristen, welche Visionen verfolgen sie?

Der Name Yamarou bedeutet: Einer, der täglich Neues schafft. Er ist einem Sohn von Soundiata Keita, dem Begründer des malischen Imperiums, entlehnt. Dieser Königssohn interessierte sich nicht so sehr für Politik, sondern für die schönen Künste und die Musik. Er soll zahlreiche Musikinstrumente und Tänze erfunden haben. Ähnlich wollen die Yamaristen die Fotografie als Mittel suchen, um auf künstlerische Weise die Identität Malis und der Malier zu verhandeln. Yamarou sieht sich nicht nur als Selbsthilfegruppe von Fotografen. Das Kollektiv veranstaltet regelmäßig Workshops für Frauen, Kinder, Jugendliche - um sie für die Kunst der Fotografie zu begeistern. 

Bamako gilt als afrikanische Hauptstadt der Fotografie. Klassische malische Porträt-Fotografen wie Seydou Keita und Malick Sidibè begründeten den Ruhm. Aber es waren Europäer, die deren Bilder zur Kunst erhoben und 1994 die Fotografie-Biennale in Bamako initiierten. Wie unterscheidet sich die zeitgenössische Fotografie der Yamaristen von der traditionellen?

"Wie wollen wir uns selbst sehen? Und wie wollen wir von den anderen gesehen werden?" Das sind die wesentlichen Fragen, die das von Seydou Camara gegründete Fotografen-Kollektiv immer wieder stellt. Es geht ihnen um mehr als nur technische oder ästhetische Fragen. Sie versuchen, über die Fotografie vielmehr auch ethische und soziale Themen anzuschneiden, diskutieren, wie Malier sich im Sinne der Gemeinschaft in das öffentliche Leben einbringen können. Das zeigt sich auch an der Sotrama-Ausstellung: Die bemalten Busse sind der künstlerische Schlüssel, um Geschichten über das tolerante Miteinander, die Kunst des Zuhörens und der Konfliktregelung in einer afrikanischen Metropole wie Bamako zu erzählen. 

Sie sind auch von der emanzipatorischen Kraft und dem literarischen Drama des Boxens fasziniert. Miles Davis soll durch Boxen seine Heroinsucht besiegt haben. Der Film "Lionhearted" erzählt vom Toleranztraining des mit Ihnen befreundeten einstigen Weltklasseboxers Ali Cukur mit Jugendlichen in München und Ghana. Sie haben, neben vielen anderen Kompilationen Schwarzer Musik, die CD "Hits And Misses" herausgebracht, die mit zwei Dutzend Songs Muhammad Ali huldigt. Welche Helden sollten Ihren eigenen Sotrama schmücken? 

"Boxen ist nicht ein Abbild des Lebens. Sondern das Leben ein Abbild der Boxkunst". So hat es einmal die Schriftstellerin Joyce Carol Oates formuliert. Tatsächlich hat mir meine jahrzehntelange Faszination für das Boxen und das eigene Boxtraining in Afrika sehr geholfen: Nicht im Sinne von Kampf, sondern um Kontakt-Hemmungen zu überwinden, Menschen direkt anzusprechen, sich zu riskieren. Gerade erst hat mir der Busmaler Drissa Konaté ein Geschenk gemacht. Er hat einen Bus mit einem von mir sehr verehrten jamaikanischen Boxer und Reggae-Sänger bemalt, Toots Hibberts. Seitdem reist ein Albumcover, das mich seit meiner Jugend begleitet, auf der Rückwand eines Sotrama durch die Straßen Bamakos.